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Piratengedanken: Das ESM-Urteil und seine Folgen

Die Aktion “Piratengedanken” ermöglicht es jedem Pirat seine Gedanken zu einem Thema seiner Wahl zu veröffentlichen. Diese Ausführungen sind keine Aussagen der Piratenpartei oder der PIRATEN Thüringen. Es handelt sich lediglich um Einzelmeinungen von Mitgliedern. **********************************************

Das ESM-Urteil und seine Folgen

Was schwirren mir gerade viele Gedanken durch den Kopf bezüglich des heutigen Urteils zum ESM des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Vielleicht habe ich einfach nur eine andere Erwartungshaltung gehabt und innerlich gehofft, dass das BVerfG den „vier Regierungsparteien“ aus CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP die verdiente Watsche gibt. Vielleicht ist der ESM ja gar nicht so schlimm, wie ich es mir ausmale und die Entscheidung der Karlsruher Richter [1] sogar genau das, was ich wollte: mehr Kompetenz für den Bundestag, über die Art und Weise des Untergangs der Eurozone und die kommende Bankendiktatur, in Form von Anleihekäufen kriselnder EU-Länder der EZB autonome Handlungsvollmacht zu geben [2], mitbestimmen zu dürfen. Dröseln wir mal zuerst das Urteil auf und betrachten es separat:

Ich versuche mich an einer Kurzversion: Höchstgrenze des Beitrags ist 190 Milliarden Euro, der Bundestag muss befragt werden und dabei geltende deutsche Verfassung v.a. im Hinblick auf den Haushaltsplan berücksichtigen. Ein von der Presse stilisiertes „Ja, aber“- Urteil, was auch keinesfalls überraschend ist. Natürlich verweist das BVerfG darauf, dass man bitte schön deutsche Gesetze einhalten soll, was soll es denn auch sonst tun? Was daran jetzt ein Erfolg für die (parlamentarische) Demokratie sein soll, von dem in den letzten Stunden u.a. von Gregor Gysi gesprochen wurde [3], erschließt sich mir nicht. Der zweite Teil des Urteils bezieht sich auf die so genannte Deckelung des Betrags auf 190 Milliarden Euro, die berücksichtigt werden muss. Das wiederum dürfte Sigmar Gabriel mit einbezogen haben, als er von einer „guten Nachricht für Millionen Arbeitnehmer“ sprach [3]. Schließlich müssten sie doch nicht so viele Steuern abführen, wovon der ESM maßgeblich finanziert wird. Auch Jürgen Trittin findet diese Deckelung ganz toll [4]. Normalerweise dürften die Mitglieder des Bundestages über die Details eines Vertrags Bescheid wissen, über den sie abstimmen. Aber für den Fall, dass sie manches Kleingedrucktes flink überlesen – ist ja auch schlecht für die Augen – haben, ein Auszug aus dem ESM, namentlich Artikel 8, Absatz 5 [5]:

„Die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibt unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Stammkapital zum Ausgabekurs begrenzt. Kein ESM-Mitglied haftet aufgrund seiner Mitgliedschaft für die Verpflichtungen des ESM. Die Verpflichtung der ESM-Mitglieder zur Leistung von Kapitalbeiträgen zum genehmigten Stammkapital gemäß diesem Vertrag bleibt unberührt, falls ein ESM-Mitglied Finanzhilfe vom ESM erhält oder die Voraussetzungen dafür erfüllt.“

Ein Zauberwort muss hier dringend erwähnt werden: Ausgabekurs. Es gibt nämlich einen Unterschied zwischen Ausgabekurs und Nennwert. Aber lassen wir das doch die FAZ erklären bzw. Dr. Stefan Homburg von der Universität Hannover [6]:

„Erstens beschränkt Artikel 8 Absatz 5 des Vertrags die Haftung nicht auf das Kapital zum Nennwert, das zusammen 700 Milliarden Euro beträgt, sondern auf das Kapital zum Ausgabekurs. Dies ist eminent wichtig, weil der Gouverneursrat [Anm. von mir: nach dem ESM-Urteil der Bundestag] beschließen darf, dass der Ausgabekurs den Nennwert übersteigt (siehe Artikel 8 Absatz 2). Zum Beispiel durch Verdopplung des Ausgabekurses könnte der ESM die Haftungssumme auf fast 1,4 Billionen Euro erhöhen, ohne dass es einer Vertragsänderung oder Kapitalerhöhung bedürfte.“

und weiter:

„Zweitens enthält Artikel 25 Absatz 2 eine Nachschusspflicht, die den allgemeinen Einzahlungs- und Haftungspflichten als spezielleres Recht vorgeht: Hiernach muss Deutschland über seinen Anteil hinaus einzahlen, wenn ein anderer Mitgliedstaat seiner Einzahlungspflicht nicht nachkommt: ein vorhersehbarer Fall, weil Staaten wie Griechenland oder Portugal zu effektiven Einzahlungen gar nicht in der Lage sind.“

Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. Ergo kann mit einer kleinen Trickserei das Volumen des ESM weit über die 190 Milliarden Euro hinaus aufgebläht werden. Dass das keinerlei Problem ist, hat das BVerfG heute beschlossen, da es den ESM als verfassungskonform erklärte. Ich frage mich, wie so etwas gekonnt von sämtlichen Politikern ausgeblendet wird, nur um dem Volk den ESM-Bären aufzubinden, der ab dem heutigen Tag von niemandem mehr gezähmt werden kann. Warum? Ich habe keinen unserer Bundestagsabgeordneten, enttäuschenderweise auch nicht von Die Linke, die Vielzahl der Klagen [7] auch nur ansatzweise berücksichtigen sehen. Erwartet jemand ernsthaft, dass künftig Bürger per Volksentscheid über dubiose Rettungsmaßnahmen befragt werden, dass wir irgendetwas mitbestimmen dürfen? Muss ich das als Erfolg werten, dass künftig der Bundestag mit einfacher Mehrheit beschließen kann und wird, dass dem ESM alle nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden? Mit dem heutigen Urteil wurde der Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP die Legitimation gegeben, wichtige europäische Entscheidungen im Alleingang zu entscheiden. Dazu braucht es nicht mal die anbändelnden Fraktionen der SPD und Grünen, die sich mit diversen Schleimereien im Wahlkampf darum kloppen werden, wer mit Frau Merkel regieren darf, aber gleichzeitig dem Volk den Eindruck vermitteln wollen, dass sie ja vollkommen gegen Merkels Europapolitik sind [8]. Muss ich also jetzt auch noch feiern, dass unsere Bundesregierung künftig als ein Advocatus Diaboli des EZB agieren darf?

Nein, hier gibt es rein gar nichts zu feiern, ganz im Gegenteil: ich bin tierisch sauer, wie man die zukünftige Situation so ohne weiteres hinnehmen muss und vermutlich von den meisten Menschen auch hingenommen wird, nur weil einige Menschen sich freuen, dass unser Parlament was sagen darf. Haben denn alle auch brav hingeguckt, wer da im Parlament das Sagen über Europas Zukunft hat? Kein Mensch wird auf die Straße gehen, sondern einfach abwarten und dabei zusehen, wie erst der Euro und anschließend ganz Europa vor die Hunde geht. Das Urteil des BVerfG ist eine herbe Enttäuschung auf ganzer Linie, da es keinerlei Substanz hat und den Menschen wieder einmal deutlich klar gemacht hat: ihr habt nichts zu melden. Over and out.

Autor: Kai Felske
Unterstützer: Reiner Schulze, Andreas Kaßbohm, Henry Gießwein
[1] http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg12-067.html
[2] http://www.faz.net/aktuell/finanzen/anleihen-zinsen/europaeische-zentralbank-obergrenze-fuer-anleihekaeufe-11532222.html
[3] http://www.tagesschau.de/wirtschaft/reaktionenesm100.html
[4] http://de.reuters.com/article/domesticNews/idDEBEE88B01U20120912
[5] http://s3.documentcloud.org/documents/402928/esm-vertrag-eurupean-council.pdf
[6] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/schuldenkrise-retten-ohne-ende-11832561.html
[7] http://www.spiegel.de/politik/ausland/esm-verfassungsklage-37-000-buerger-klagen-gegen-euro-rettungsschirm-a-853812.html
[8] http://www.tagesschau.de/inland/ezb-staatsanleihen100.html