Artikel Statements

Finger weg vom Grundgesetz

Wir halten uns ans Grundgesetz. Da sind wir konservativ.

Das deutsche Grundgesetz kennt eine Reihe von Grundrechten, die grundsätzlich nicht angetastet werden sollten. Dass in der Vergangenheit da und dort herumgeflickt wurde, um es der allgemeinen Gefühlslage anzupassen, heißt nicht, dass man nach Belieben damit umgehen kann.
Zu den Grundrechten gehört nach Artikel 13 das Recht, in der eigenen Wohnung ungestört und unüberwacht vom Staat zu tun und zu lassen, was man gerne möchte:

(1) Die Wohnung ist unverletzlich.
(2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der
dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. Ein Eingriff in dieses Recht bedarf eines richterlichen Beschlusses oder einer unmittelbar drohenden Gefahr.

Eine Pandemie ist zweifellos eine allgemeine Gefahr. Aber rechtfertigt sie deshalb den Eingriff in ein Grundrecht, damit die Polizei kontrollieren kann, ob sich mehr als 10 Personen aus mehr als zwei Haushalten in einer Wohnung aufhalten? Wohl kaum, zumal es mildere Mittel gibt. Man könnte – das ist lästig, aber grundsätzlich möglich – beispielsweise den Ausgang der Wohnung überwachen und bei Verlassen die Personalien feststellen. Man könnte für alle Anwesenden vorsorglich Quarantäne verhängen. Man könnte sogar klingeln und nachfragen. Was man nicht darf, ist den Zugang erzwingen, denn die Gefahr durch eine eventuelle und nicht bekannte Infektion wäre nicht unmittelbar, sondern sehr mittelbar. Im Verzuge ist keine Gefahr.
Alle Einschränkungen der letzten Monate wurden von der Bevölkerung sehr überwiegend geduldig und diszipliniert ertragen. Das ist kein Grund, sie für blöd zu halten. Es gab ein hohes Maß an Einsicht und Solidarität. Die Kontaktbeschränkungen im Frühjahr wurden von der großen Mehrheit so konsequent befolgt, dass die Zahl der COVID19-Infektionen extrem zurückging. Ein Generalverdacht gegen alle und jeden ist weder angemessen noch sinnvoll.
Problematisch ist eher das Regierungshandeln. Notwendige und richtige Maßnahmen werden grundsätzlich zu spät und zu inkonsequent ergriffen. Es gibt ein großes Geeier und eine föderalistische Bedeutungshuberei. Die allgemeine Lockerungsdebatte wurde von Politikern im vorgezogenen Wahlkampfmodus losgetreten, tausendfache Verstöße gegen Auflagen bei Demonstrationen ignoriert und mit Anbruch der Urlaubssaison ganz Europa zum ungefährlichen Reisegebiet erklärt, ohne das Infektionsgeschehen im mindesten zu berücksichtigen. Viel zu spät wurde gegengesteuert. Von Maßnahmen gegen die unsäglichen Zustände in der Schlachtindustrie ist schon gar keine Rede mehr.
Jetzt nach Kontrolle der Vorschriften in den Wohnungen zu rufen und dafür sogar das Grundgesetz ändern zu wollen, ist jenseits aller Verhältnismäßigkeit. Derartige Ideen reihen sich ein in die Hochrüstung des Überwachungsstaates mit Staatstrojaner, automatischer Kennzeichenerfassung auf den Straßen, Kameraüberwachung des öffentlichen Raumes, Fingerabdrücken im Pass und automatischer Gesichtserkennung.
Ein Staat, der es nicht schafft, die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln durchzusetzen, braucht keine weiteren Befugnisse. Er braucht eine Rückbesinnung auf das Gemeinwohl und für seine Repräsentanten eine Sitzungspause, damit sie ihre Kenntnisse des Grundgesetzes auffrischen können.